Der Raub

Veröffentlicht von Denis Molina Dominguez am

Luisa war schon sehr spät dran. Die bevorstehende Vorlesung in der Uni versprach noch langweiliger zu werden als sonst, doch sie konnte diese Tatsache nicht erneut als Grund verwenden, um die erste Stunde zu schwänzen. Denn in letzter Zeit waren ihre Noten nicht so vielversprechend und obwohl sie den Grund nicht kannte, fehlte ihr oft die Kraft und die Konzentration den normalen Alltag zu meistern. Zu wenig Schlaf… vielleicht? Ach… egal!
Rasch aus dem Bett, schnell noch ein paar Sachen von gestern erledigen, Zähne putzen, duschen, frühstücken und nichts wie raus aus der Wohnung. Zur U-Bahn.

Photo by Gabriel Matula on www.Unsplash.com

»Heute sind Sie aber spät dran«, hörte Luisa jemanden oben im Treppenhaus sagen, als sie in Eile die Stufen hinunter sauste.
»Ja, da haben Sie Recht«, stimmte Luisa der älteren Dame zu, um bloß nicht anzuecken.
„Die Klappe halten, wenn andere reden“… genau so, wie sie es von ihrer Mutter Jahre lang in der eigenen Familie gelernt hatte, wenn der besoffene Vater immer wieder seiner Herrscherdiktatur im Haus den freien Lauf gelassen hatte.
»Das ist Ihnen in der letzten Zeit aber öfter passiert«, schrie die neugierige Nachbarin lauter, ohne den Hauch einer Intention die junge Dame in Ruhe zu lassen, als Luisa ganz unten das Ende der Treppe erreicht hat.
»Ja, ja… da muss ich das nächste Mal besser aufpassen. Der Wecker… Sie wissen schon…«, kam aus Luisa raus, obwohl dieser andere Satz für eine Sekunde durch ihren Kopf schoss:
»So wie Sie sich in das fremde Leben der Nachbarn einmischen?!«.
Doch sie hat sich nicht getraut, diese Antwort zu geben. Einen Schritt weiter zu gehen, um dem inneren Kind in ihr zu widersprechen? Nein, denn ihr inneres Kind würde es nicht zulassen; was soll eine Sekunde der Vernunft gegen 23 Jahre Tyrannei und Demütigung ausrichten können?

»Nein, nein. Ich weiß nicht, wie das ist!«, sagte der Hausdrachen von oben. »Ich bin nie zur Uni gegangen und zu meiner Zeit gab so etwas nicht: Eine junge Dame, die alleine ohne Mann wohnt… und das ist …«, Luisa wollte sich die Plauderei nicht länger anhören.

Endlich draußen. »Geschafft!«, sagte sie, während die Nachbarin oben im Treppenhaus unverständlich weiter vor sich hin sprach.
»Beep, beep!«, ihr Smartphone vibrierte.
»Was soll ich jetzt noch machen?«,  war eine neue Nachricht zu lesen.
Der Hilfeschrei, den oft keiner hört, kam von Elli. Das verzweifelte Mädchen von nebenan, das nie gelernt hat, ihr Leben aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen. Scheinbar hatte sie schon wieder Ärger mit ihrem neuen Lover und brauchte Rat samt einer Schulter zum Ausweinen. Denn das ist einfacher als aus den eigenen Fehlern zu lernen. Und welche Adresse sollte besser sein als Luisa? Diese unzertrennliche Sandkasten-Freundin, die immer da ist, wenn man sie braucht. Das Mädchen, das nicht Nein sagen kann und sich nie wehrt, wenn ihr irgendetwas nicht passt. Die perfekte Oase, um seine angestaute Wut abzuladen.

Luisa blieb vor dem Gebäude stehen. Sie wollte ihrer Freundin helfen oder besser gesagt, wie gewohnt sich opfern, um die notwendige Bestätigung ihrer Güte als Dopamin-Schuss zu bekommen. Diese tägliche Dosis, die manche so dringend brauchen.

»Könnnen wir später drüber redden?«, vertippte sie sich, als die Textkorrektur am Handy nicht mir ihrer Nervosität zusammen spielen wollte.
»Beep, beep!«, eine neue Nachricht von Elli…
»Du hast gesagt,…«, las Luisa weiter im Stehen, »…du wärst  IMMER für mich da. Manchmal frage ich mich, ob Dir unsere Freundschaft etwas bedeutet!«, bekam sie als Antwort zurück.

Luisa wusste nicht, was sie tun sollte, zur U-Bahn rennen, um die Vorlesung in der Uni nicht wieder zu verpassen oder die erwartete seelische, digitale Paartherapie am Telefon zu starten? Oh Mann…! Dieser Stress, blöde Kommentare der Nachbarin, Zweifel an der Freundschaft…? Und das alles vor der ersten Zigarette?

Der Weg zur Uni war wie erwartet: Nur blöde Menschen unterwegs, keine freien Sitzplätze in der U-Bahn, und jeder saß vertieft wie ein Zombie in seiner digitalen Welt.

An der Uni angekommen, ging sie – wie zweimal in der Woche – durch den großen Hörsaal, nahm ihre Kommilitonen nicht wahr und setzte sich ganz hinten hin, um endlich an der Vorlesung teilzunehmen. Minuten später als ihre Synapsen die monotone Stimme des Professors in den Hintergrund rückten, dachte sie aus unerklärlichen Gründen über ihr Leben nach. Ohne Kraft und voller Zweifel ging ihr wieder ein Gedanke durch den Kopf: „Ich wurde seelisch beraubt und verbal missbraucht, ohne den Täter zu identifizieren und nicht einmal zu erkennen, was oder wer eigentlich die Beute war“.

Und du? Wie oft in deinem Leben ernährst du eine Energievampire?:

Maria MattiesYouTuberin / Mental Coach / Insta: @mariamatties

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